
Ernst Matzke
*1938 in Hamburg
lebt und arbeitet in Bremen
Website: www.digitalartgraphic.de
Ernst Matzke – Im Hier und Jetzt
Es ist schwierig mit den Begrifflichkeiten: Wenn Hegel von „konkret“ spricht, meint er, was landläufig als „abstrakt“ verstanden wird und umgekehrt (vgl. Phänomenologie des Geistes). Denn dieses da, direkt vor uns, ist schon nicht mehr, wenn ich mich umdrehe. Und wenn ich morgen in die gleiche Richtung sehe, mag sich dort etwas anderes als am Vortag zeigen. Dieses da, jetzt, ist leer, es ist die leerste Erkenntnis. Erst wenn hiervon abstrahiert wird, wenn etwas auf den Begriff gebracht wird, wird es fest und fassbar, wird es konkret.
Vor diesem Hintergrund ist die 1924 von Theo van Doesburg gegründete Kunstrichtung „Konkrete Kunst“ eigentlich als „Abstrakte Kunst“ zu verstehen. In einem Manifest brachte van Doesburg 1930 diese Kunstrichtung programmatisch auf den Begriff. Hierzu gehört unter anderem, dass ein Gemälde ausschließlich aus rein bildnerischen Elementen konstruiert werden sollte, d. h. aus Flächen und Farben. Es verweist nicht auf etwas außerhalb, hat keinen symbolischen Tiefengrund. Es steht für sich. Kurz: Diese Kunst nimmt nichts von dem leeren Konkreten des uns Umgebenden, sondern geht allein von der Gedankenwelt aus.
Dieser Kunstrichtung fühlt sich der 1938 in Hamburg geborene freischaffende Künstler Ernst Matzke verbunden. Er ist dann auch vergleichsweise schweigsam, wenn es um den Bedeutungsgehalt seiner konstruktiven Bilder, nicht aber, wenn es um seine Arbeit geht. In einem Interview berichtet er, dass er von der Dunkelheit ins Helle arbeitet. Welch ein metaphorische Beschreibung, wenn es um den Schaffensprozess geht, vom Chaos in den Kosmos, in das Wohlgeordnete, Strukturierte und Klare. Dabei hat Ernst Matzke die Bilder zuvor im Kopf. Die Gedanken müssen dann nur noch zur Wirklichkeit werden, zu Bildern mit farbigen Flächen.
Wenn Matzkes Oeuvre insgesamt in den Blick genommen wird, so fällt aber schnell auf, dass hier die Grenzen des ursprünglichen Manifests „Konkreter Kunst“ überschritten werden, etwa wenn sich dreidimensionale geometrische Figuren aus den Farbflächen herausschälen. Seit den 1960er Jahren komponiert Matzke konkrete Bilder, mit denen er diese Kunstrichtung auch in die neue Zeit überführt. Neben dreidimensionalen Figuren werden teils auch organische Objekte, wie eine Kartoffel oder eine Aubergine, in die konkreten, gegenstandslosen Welten platziert.
Die Anpassung an die Gegenwart zeigt sich auch darin, dass Matzke viele seiner Bilder am Computer erstellt. Es sind digitale Druckgrafiken, sein Arbeiten ist „Digitalgraphie“. Der studierte Grafiker, der lange Zeit als Werbegrafiker tätig war, hat etwa seit der Jahrtausendwende die Kunst zu seinem einzigen Beruf gemacht. Neben den mehr oder weniger für sich stehenden Farbflächenbildern finden sich sehr konkrete figürliche digitale Malereien, bevölkert etwa mit mythologische Wesen, Landschafts- oder aber Personendarstellungen. Auch mit den Techniken experimentiert Matzke, neben Punkt- und Vektorgrafiken, finden sich Fotografien, weiterverarbeitet und verfremdet.
Es ist ein ganzer Kosmos, der sich in diesen Arbeiten zeigt, in all seiner Vielfältigkeit und einiges von Diesem-Da, von dem von Hegel als Leer diffamierten ganz Konkreten findet sich ebenfalls. Denn auch dieses Ganz-Konkrete ist letztlich nichts anderes als eine Kopfgeburt und vielleicht ist das eine der Ergebnisse der Erweiterung der „Konkreten Kunst“, die Ernst Matzke seit Jahren vornimmt. Niemand schafft einen Kosmos, auch nicht den eigenen, alleine: Das Vorgefundene Hier und Jetzt prägt, begrenzt und öffnet.
Darüber ließe sich reden, und dies am besten vor dem Hintergrund der wunderbaren vier zusammengehörigen Vektorgrafiken von Ernst Matzke, „Standpunkte I – IV“: Disput – Dislokation – Dispensierung – Disjunktion.
(Text: Dr. Thomas Ebers/Januar 2022)