
Gan-Erdene Tsend
*1979 in Murun / Mongolei
lebt und arbeitet in Münster
Website: www.gan-erdene.de
Von der Mongolei bis ins beschauliche Münster
Erste verlässliche Berichte über Innerasien, zu der auch die Mongolei gehört, stammen aus dem Jahr 1245. Im Auftrag des Papstes Innozenz IV. überbrachte der Mönch Giovanni de Plano Carpini eine Grußbotschaft an den damals herrschenden Großkhan. Gar wunderliche Geschichten erzählte der Venezianer Marco Polo von seinen Erlebnissen am prachtvollen Hofe Kublai Khans, des Enkels des legendären und gefürchteten Dschingis Khan. So soll sich bei einem Fest, bei dem den Göttern Trankopfer mit Pferdemilch dargebracht wurden und der Segen des Himmels für Vieh und Ernte Folgendes zugetragen haben: „Bei solchen Gelegenheiten haben die Sterndeuter und Zauberer reichlich Anlaß, ihre Künste zu zeigen. Wenn zum Beispiel am Himmel Wolken heraufkommen, so steigen sie auf das Dach des Schlosses und beschwören das Gewitter und erreichen wirklich, daß es dem Palast selbst fernbleibt.“ Das ist aber noch längst nicht alles: „In ihrer teuflischen Kunst sind die Hofzauberer des Khans so erfahren, daß sie Dinge vollbringen, die unsere Fassungskraft übersteigen. So zum Beispiel, wenn seine Majestät sich zum Mahle niedergelassen hat. In einiger Entfernung von der Tafel pflegt dann ein Tisch zu stehen, auf dem die Trinkgefäße und Behälter ihren Platz haben. Durch ihr Zaubervermögen bewirken es nun die Magier, daß Flaschen und Behälter die Becher von selbst füllen, ohne daß es dabei der Diener bedarf. Ja, die Becher fliegen frei durch die Luft in die Hand des Khans, wenn er trinken will“, schreibt Marco Polo in seinem Reisebericht, das das Bild von der Mongolei aus europäischer Sicht lange prägte, ebenso wie die Berichte des Abenteurers Sven Hedin.
Einen Einblick in die Mongolei der Moderne, aber auch in sein Leben in Deutschland, gewährt der Künstler Gan Erdene-Tsend bei einem Besuch in seinem Atelier am Hafen in Münster. Wie er berichtet, lebte er bis zum siebten Lebensjahr bei seiner Großmutter, die als Nomadin nahe der Stein- und Sandwüsten der Gobi mit ihren Schafen, Ziegen, Pferden, Rindern und Kamelen den Jahreszeiten folgend umherzog, und nur die Wintermonate in einem festen Quartier verbrachte. Sie war es auch, die Gan-Erdene Tsend die traditionellen Märchen und buddhistischen Legenden lehrte. Diese Nähe zur Natur und zur heimischen Kultur hat ihn und sein späteres künstlerisches Schaffen geprägt. „Mit drei Generationen haben wir in einer traditionellen Jurte gewohnt, von morgens bis abends die Tiere gehütet und im direkten Einklang mit der Natur, die von unendlicher Weite geprägt war, gelebt. Ein einfaches Leben. Aber es gab für mich als Kind auch ausreichend Zeit zu spielen. Früh lernte ich das Reiten, das mir besonderen Spaß machte. Da ich wenig Kontakt zu anderen Kindern meines Alters hatte, wurde mein Pferd mein persönlicher Bezugspunkt. Es war Spielkamerad, Freund und Beschützer in einem. Eine besondere Beziehung“, berichtet er.
Eine Schulpflicht gab es aber auch. Der Unterricht wurde von Montag bis Freitag in einem Dorfzentrum abgehalten, und am Wochenende ging es zurück zur Familie.
Nach dem Abschluss der Grundschule führte der Weg von Gan Erdene-Tsend nach Ulan-Bator, der Hauptstadt der Mongolei, wo seine Eltern lebten und arbeiteten. Schon als Kind hatte er ein großes Interesse am Zeichnen und Malen; und als die Entscheidung anstand, was er nach seinem Schulabschluss machen sollte, war sofort klar, dass er ein Kunststudium beginnen würde.
Geprägt von der berühmten „Leipziger Schule“ war das Studium in Ulan-Bator. Viel Wert wurde auf klassisches malerisches Handwerk gelegt, Malerei im Stil des Realismus stand im Fokus.
Um seine Kenntnisse zu erweitern und neue Inspirationsquellen zu erhalten, bewarb sich Gan Erdene-Tsend für ein Kunststudium in Deutschland. Den Rat hatte er von seinem Cousin erhalten, der dort schon lebte. Die Bewerbung mit Mappe war erfolgreich und so ging es für ihn über mehrere 1000 Kilometer in die westfälische Provinz, genauer gesagt nach Münster. Unterricht erhielt er dort an der Kunstakademie bei Professor Hermann-Josef Kuhna.
Von diesem erhielt er auch die erwarteten Kentnisse und Inspirationen. Zunächst galt es, die an der Kunstakademie in Ulan-Bator prägende Richtung des Realismus zu hinterfragen.
Künstlerisch zum Ausdruck gebracht hat Gan Erdene-Tsend diese Fragestellung in der Ausstellung „Reality is just an illusion“, die 2022 in der Burg Vischering in Lüdinghausen zu sehen war. Darin ging es um die Konfrontation zwischen Realität und beschönigender Illusion, das Spiel mit Wahrnehmungen, die auch von Selbsttäuschung und Falschdeutung geprägt sein können und natürlich um das Thema Heimat. Bei den Motiven des Künstlers trifft hier mongolische Tradition auf westliche Zivilisation.
Was natürlich auch Gan Erdene-Tsends künstlerisches Schaffen neben seinen schon gemachten Erfahrungen und Eindrücken in seinem Geburtsland Mongolei prägen sollte, waren und sind die Eindrücke von seiner neuen Heimat und der sie prägenden Landschaft. Eine besondere Faszination hat Gan Erdene-Tsend für Ostfriesland entwickelt. Die Weite der Landschaft erinnert ihn an sein Geburtsland Mongolei. Sehr beeindruckt haben ihn dort auch die besonderen Lichtstimmungen, die er aus seiner Kindheit überhaupt nicht kannte.
Wie der Schriftsteller Frank Schablewski im Katalog zur Ausstellung „Reality is just an illusion“ in der Burg Vischering schreibt, „überrascht es nicht, in den Bildern von Gan Erdene-Tsend die Weite wie die Leere zu finden, in welche er die Menschen, Tiere und Gegenstände komponiert. Pferdebilder mit und ohne Menschen, Spiegelbilder, die Menschen an Wasserflächen zeigen, und Landschaftsbilder stellen die zentralen Motive seines bisherigen malerischen Werkes dar. Es sind Bilder, die die Grunderfahrung des Malers reflektieren.“
Ein häufig auftretendes Element in den Motiven Erdene-Tsends sind Spiegelungen. Nach den Ausführungen von Frank Schablewski werfen diese „ein Licht in die Betrachtung, das in der Zukunft wie in der Gegenwart zu leuchten scheint.“ Schablewski verweist darüber hinaus auf spirituelle Dimensionen: „In der Sprache der Mystik ist der Spiegel ein Symbol für Gott, als Spiegel der Ewigkeit und für Christus, aber auch für die Seele.“
Im Gespräch nimmt der Künstler gleichfalls diesen Aspekt auf. Er spricht von seelisch-geistigen Prozessen, die ihn beim Malen begleiten, und auch von Entwicklungsprozessen in seiner Persönlichkeit: „Die Kunst hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin.“ Und sein Gesichtsausdruck macht deutlich, dass er im Einklang mit sich ist.
(Text: Andreas Meistermann/September 2024)