
Lo Graf von Blickensdorf
*1952 in Münster
lebt und arbeitet in Berlin
Blog: https://blaues-blut.blogspot.com/
Kleider machen Leute
„… und als der verdutzte Schneider endlich hervorsprang in seinem Mantel, blaß und schön und schwermütig zur Erde blickend, schien er ihnen wenigstens ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn zu sein.“ – so steht es in der 1874 erschienenen Novelle „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller. Ähnliches hat sich auch vor einigen Jahren in Berlin ereignet, nur mit einigen kleinen Unterschieden.
Während Keller vom armen Schneidergesellen Wenzel Strapinski aus Seldwyla berichtet, der im reichen Ort Goldach nach einer neuen Arbeit sucht und ohne sein Zutun nur aufgrund seiner gepflegten Kleidung fälschlicherweise für einen polnischen Grafen gehalten wird, hat der Fall in Berlin eher den Charakter einer Selbstermächtigung.
Ein Sprung in das Jahr 1951: In diesem Jahr wird in Münster ein gewisser Lothar Blickensdorf geboren, der mit zahlreichen kreativen Fähigkeiten gesegnet ist. Nach dem Abschluss der Schule und einem Praktikum bei dem bekannten Fotografen Pan Walther führt ihn der Weg zunächst zur Fachhochschule Dortmund, wo Pan Walther als Professor tätig ist. Neben der Fotografie hat Blickensdorf auch ein Faible für das Malen und das Schreiben.
Er entscheidet sich, selbstständiger Künstler zu werden und stürzt sich in den 1970er und 1980er Jahren in die kreative Szene seiner Heimatstadt Münster, in Galerien, Kneipen, Diskotheken und Konzerthallen. Im von Steffi Steffan gegründeten Jovel lernt Blickensdorf so bekannte Musiker wie Udo Lindenberg, Peter Maffay und Eric Burdon kennen. Auch Götz Alsmann läuft ihm über den Weg, der damals noch am Anfang seiner Karriere war. Blickensdorf betätigte sich unter anderem als Zeichner und Gestalter von Plattencovern. Regional bekannt wird die von ihm gezeichnete Figur eines glatzköpfigen Mannes mit einem Ringelpullover. Sie findet sich auf den Platten der Politrocker „Gebrüder Engel“.
Wie viele andere Kreative lockt es Blickensdorf aus der westfälischen Provinz Anfang der 1980er Jahre nach West-Berlin. Neben der dortigen Musik-, Kultur- und Filmszene sprechen billige Mieten und verschiedene Fördergelder für einen Umzug in die damals noch mitten in der DDR gelegene und von einer Mauer umgebene Metropole. Erste Jobs gibt es bei den verschiedenen Stadtzeitungen wie „Zitty“, unter anderem als Illustrator, Zeichner, Layouter und Gestalter von Titelbildern; das private Leben findet unter anderem in der Hausbesetzer-Szene in Charlottenburg statt.
Alles scheint gut zu laufen, doch dann kommt es für Blickensdorf knüppeldick. Scheidung und fehlende Jobs führen ihn in den finanziellen Abgrund. Der Verzweiflung nahe, kommt ihm der bekannte Zufall zur Hilfe. Er stößt auf eine Broschüre mit Tipps, wie ein Künstler sich besser vermarkten könne. Bei Blickensdorf reift die Erkenntnis, dass das einheitliche Schwarz, das in der Künstlerszene in war, eher dazu führte, kaum aufzufallen, kaum unterscheidbar zu sein.
Und irgendwann reifte die Idee, wie es denn wäre, in die Rolle einer anderen Persönlichkeit zu schlüpfen, beispielsweise in die eines Grafen. Was brauchte es dazu: Ein Tweed-Sakko, Budapester Schuhe, Einstecktuch, Seidenkrawatte, Flanierstock und Visitenkarten. So wurde aus Lothar Blickensdorf „Lo Graf von Blickensdorf“. Der Erfolg war durchschlagend. Die Menschen begegneten ihm mit großem Respekt. Er wurde mit „Guten Morgen, Herr Graf“ angesprochen, und hinter seinem Rücken wurde anerkennend geflüstert: „Du, das war der Graf“. Was aber noch viel wichtiger war: Die von ihm bei offiziellen Veranstaltungen hinterlegten Visitenkarten mit dem Namen „Lo Graf von Blickensdorf“ fielen auf und führten zu weiteren Einladungen. Unter anderem zu Botschafts-Empfängen und zur Berlinale. Es folgen Einladungen zu Talkshows und die Zeitungen berichten über ihn. Die plötzliche Prominenz verschafft auch seiner brachliegenden künstlerischen Karriere neuen Aufschub, denn bei den Veranstaltungen, zu denen er unter seinem Adelsnamen eingeladen wird, trifft er die wichtigen Leute aus Kunst, Kultur und Medien. Blickensdorf bekommt Aufträge für Cartoons, Kolumnen und Drehbücher, unter anderem von ZDF, RTL, Stern, Spiegel, dem Satiremagazin Eulenspiegel und verschiedenen Tageszeitungen. Und der Erfolg dauert bis heute an. Befragt nach seinen Plänen für die Zukunft, gibt er sich relaxt und sagt: „Jeder Tag ist eine Wundertüte. Ich lasse alles auf mich zukommen.“
Ausführlich nachzulesen ist der Lebensweg von Lo Graf von Blickensdorf übrigens in dem von ihm selbst geschriebenen Buch „Werden Sie doch einfach Graf“, das im Rotbuch-Verlag erschienen ist.
(Text: Andreas Meistermann/September 2022)